Silvia Reindl – Das Selbstbild

Silvia Reindl – Das Selbstbild

Die rote Brille

Eine Brille mit Fensterglas in knallrot. Die wenigsten wissen von ihr, nur die engsten Verbündeten. Manchmal setze ich sie heimlich auf und schaue einfach nur durchs Fenster – doppeltes Glas. Sie verbessert nicht mein Augenlicht, jedoch bringt sie mir ein Stück Vergangenheit zurück, genau gesagt – fast 35 Jahre.

Damals war die Volkschule Zentrum unseres Dorfes. Viel gab es sonst nicht, nur daneben einen riesigen Fahrradständer aus Beton. Fast schien es so als wäre er das Wahrzeichen des Dorfes. Ich war wie der Fahrradständer – grau und nicht sehr hübsch. Mit acht Jahren sollte ich von der Tafel laut vorlesen und stand minutenlang schweigend da – peinliche Stille. Der Lehrer schickte mich zum Augenarzt. Diagnose: zwölf Dioptrien Kurzsichtigkeit. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts von der Existenz eines Sekundenzeigers auf unserer Küchenuhr. Krankenkassenbrille, billig und die Gläser dick wie Aschenbecher. Von einen Tag auf den anderen war meine kindliche Welt aus den Fugen geraten. Acht Jahre ein weichgezeichnetes Bild, in Watte gepackt und beschützt im eigenen Kosmos. Mit einem Schlag: Klarheit und scharfe Konturen. Ich hatte mich auf mein Gehör, den Geruchsinn und mein Gefühl verlassen. Kletterte auf Bäume und spielte auf der Straße Ball, nie Blessuren davongetragen und schon immer mit den Händen versucht Dinge zu beschreiben. Die Rinde des Essigbaums, so glatt mit feinen Rillen. Den Buchsbaum roch ich schon lange bevor ihn die anderen sahen. Die Mimik der Menschen zwar verschwommen, doch ihre Gefühle hörte ich zwischen den Zeilen.

Bücher waren damals schon meine Leidenschaft, immer kurz vor der Nase – da sah ich ja gestochen scharf. Die Streberin hatte sich jetzt ihrem Ruf angepasst, trug brav Brille und saß wissbegierig immer in der ersten Reihe. Eingebettet in einen starken Freundeskreis wurde ich wenig gehänselt. Balsam für das Immunsystem der kindlichen Seele. Verkäuferin in einem Laden für Lebensmitteln, Kohle, Stoffe und Mantelschürzen, sollte ich werden. Der erste Tag als Lehrling: Versunken in der blauen Mantelschürze – mindestens zwei Nummern zu groß. Morgens dem Chef den Kaffee machen und auf das Nachtkästchen stellen. Nicht zu vergessen das Hundefutter kochen und abends noch das Haus reinigen. Die erste Rebellion nach zwei Monaten – da bleib ich nicht! Ich setzte mich durch, doch der schale Geschmack von Niederlage blieb. Das erste Scheitern und Nichtentsprechen bohrte sich ins Unterbewusstsein und begleitet mich noch viele Jahre.

Aufnahmeprüfung in der Handelsschule Feldbach – wieder ein Block aus Beton, der mich drei Jahre lang prägte und Einfluss auf mein Leben nahm. Der strenge Professor im Fach Buchhaltung betrat die Klasse und es wurde leise. Ich mochte es, weil es Ordnung in meine Gedanken brachte. Klar strukturiert gab es wenig Diskussionsbedarf, nach dem Motto: Halte dich an die Regeln und das Ergebnis passt. Es war das Gegengewicht zu diesen ewigen Geschichten in meinem Kopf. Ich schloss sie mit Auszeichnung ab, wenigstens wollte ich meinen Eltern – und auch mir – beweisen, dass der Lehrabbruch die richtige Entscheidung war.

Der zweite Anlauf in das Arbeitsleben. Zwei Jahre Rechnungen verbuchen in einem Grazer Industriebetrieb und die Erkenntnis – das kann es noch nicht gewesen sein. Sicherer Job, eigenes Auto und kurz zuvor das beschützende Nest der Eltern verlassen und zum ersten Freund gezogen. Im neuen Wohnort das Schild: Kellnerin gesucht! Ein Zeichen für einen neuen Lebensabschnitt, ich kündigte und ging für einige Jahre ins Gastgewerbe. Anfangs noch schüchtern und zurückhaltend entdeckte ich meine große Leidenschaft: Menschen. Viel Schein aber auch Sein, endlose Gespräche, Lebensbeichten, Vertrauen und Freundschaften. So sehr diese Welt auch gibt, so nimmt sie dir auch Energie. Deswegen wieder zurück in mein altes Metier – die Welt der Zahlen – bis ich 2005 in Kirchberg a.d.R. Wurzeln schlug. Die Besitzer eines Elektrounternehmens erkannten Potential, förderten mich und stehen noch heute als Mentoren an meiner Seite. Die Streberin stand wieder in den Startlöchern. Ich absolvierte unzählige Ausbildungen im kaufmännischen Bereich, von der Bilanzbuchhalterin bis zur Controllerin und holte die Matura nach. Und doch immer wieder die leise Stimme im Kopf: Ist er noch da, dieser bunte Teil in mir? Tief zementiert der Glaubenssatz: Man kann nicht beides sein, eine gute Buchhalterin und eine kreative Seele – Punkt. Zwei Wörter beschreiben mein Wesen: Neugierde und Beharrlichkeit. 4.000 Stunden erlerntes Wissen in zehn Jahren. Und langsam die Erkenntnis, dass beides nebeneinander existieren kann. Unternehmensberaterin, Kommunikationstrainerin, Systemischer Coach, Farb-Stil-und Imageberaterin und Gedächtnistrainerin. Der Mensch braucht eine Konstante zur Orientierung und Bewegung für die Weiterentwicklung. Die Verbindung war endlich gefunden.

2008 die Gründung einer Personalleasingfirma, der erste Schritt in die Selbstständigkeit, im Handeln war ich es schon lange. Oft schon belastend für mich und meine Kollegen, mit einer Ungeduld und Willenskraft, die oft an meine Grenzen ging. Und dann kam das Jahr, das mich lehrte geduldig zu sein. Eine Augenoperation im April 2011 und zwei Monate Arbeitsunfähigkeit aktivierten die Sinne meiner Kindheit und halfen mir über diese schwierige Zeit. Belohnt mit voller Sehstärke übergab ich die Brillen feierlich dem Abfallcontainer, nur die rosarote behielt ich immer auf.

Im September 2012 die Hochzeit mit Hannes in Kapfenstein und aus Schuchlenz wurde Reindl. Ein Landwirt der mich erdet, wenn die Ideen und Visionen überhand nehmen. Ruhe und Kraft sind seine Stärken, aber auch Akzeptanz meines wichtigsten Wertes: den Drang nach Freiheit, dicht gefolgt von Gerechtigkeit und Wertschätzung. Und er führt mich immer wieder auf das Wesentliche im Leben zurück – Genießen. So wie enge Familienbande und ein starkes Netz an Freundschaften mir Stabilität geben.

2013 die zweite Firma – Summarum GmbH – Bilanzbuchhaltung und Unternehmensberatung ohne Anzug und Krawatte. Zwei männliche Geschäftspartner – Heinz und Matthias – ohne die ich diesen Schritt nicht gewagt hätte. Wir teilen die Leidenschaft für Zahlen und es ist eine besondere Mischung aus Kompetenz, Lockerheit und einfacher Sprache für eine schwierige Materie, die uns verbindet.

Gut organisiert mit verlässlichen Menschen im Hintergrund war es möglich im Sommer 2014 dem Ruf von Frau in der Wirtschaft Feldbach als Bezirksvorsitzende zu folgen. Unsere Vision für die Unternehmerinnen: Aufmerksamkeit erzeugen, Wissen vermitteln und Netzwerke bilden. Unser Team ist Anlaufstelle für Ideen und dankbar für jedes offene Wort. Wir arbeiten ehrenamtlich und Kommunikation auf gleicher Augenhöhe ist uns wichtig. Im Schatten ist kein Wachstum möglich, deswegen wollen wir mehr Präsenz in der Öffentlichkeit. Stammtische, Vorträge und Firmenbesuche sind der erste Schritt dorthin.

Das Karussell dreht sich, das Tempo ist schnell. Das innere Kind gut versorgt, begeisterungsfähig, optimistisch und Menschen gegenüber vorbehaltlos. Jedoch auch ungeduldig, suchend und nie ganz angekommen. Einfachheit und Entschleunigung finde ich in meinem Oldtimer, beim Reisen oder beim Streicheln meines Hundes Rex. Dann werden die Geschichten im Kopf leiser, die Konturen wieder sanft. Vielleicht ist es Gewohnheit oder auch nur ein Tick, wenn ich meine rote Brille aufsetze und mich zurücklehne: Eine Vergangenheit mit vielen Höhen und wenigen Tiefen und eine große Sehnsucht in mir – Menschen zu verbinden.

Silvia Reindl – Farb-, Stil- und Imageberatung | Karrierecoaching | Persönlichkeitsentwicklung | Seminare